Augenzeugenbericht der Peri-Aktivistin und Rechtsanwältin, Vildan Yirmibesoglu, zur Beisetzung von Arzu Özmen in der Türkei / 06. Februar 2012

War Arzu Özmen verlobt?

Um 07:15 Uhr hob das Flugzeug mit dem Sarg von Arzu in Istanbul ab. Um 09:05 Uhr sind wir in Diyarbakir gelandet. Von dort aus bin ich mit dem Bus nach Batman und von Batman weiter nach Midyat gefahren. Egal wen ich fragte, niemand konnte mir sagen wo das Dorf Cayirli genau liegt. Auf meinem Weg nach Midyat lernte ich im Landkreis Gercüs den Muhtar (Dorfvorsteher) kennen, der mir erklärte, dass niemand den Dorfnamen Cayirli kennen würde und dass man den kurdischen Namen ermitteln müsse. Nach einpaar Telefonaten verriet er mir, dass das Dorf auf kurdisch Kefnas heiße und etwa 15-20 km von Midyat entfernt mit einer unbefestigten Landstraße verbunden sei. In seiner ostanatolischen Gastfreundschaft bot der Muhtar mir an, mich persönlich in das Dorf zu fahren. Auf unserem Weg trafen wir auf Bauern, die man dort als "Göcer" bezeichnet. Diese Göcer leben in Zelten und bestreiten ihren Lebensunterhalt mit der Viehzucht und besitzen etwa 900 Schafe. Zwei der Bauern, die wir trafen, waren erst 18 und 12 Jahre alt und gingen nicht zur Schule. In ihrer Herzlichkeit luden sie uns zum Tee ein, den sie in einer allmählich verglühten Teekanne kochten. Aufgrund der Eile, die uns trieb, konnten wir leider die Tee-Einladung nicht annehmen und fuhren weiter zum Dorf. Die alten Steinhäuser wirkten verlassen. Neben ihnen ragen neue, luxuriöse Häuser hervor. Gemessen an der Region, kann man sagen, dass das Dorf verhältnismäßig entwickelt ist. Zu dieser Jahreszeit sind kaum Menschen in diesem Dorf zu finden. Lediglich im Nebendorf war eine muslimische Bauernfamilie anzutreffen. Am Grab angekommen, bemerkten wir einen relativ gepflegten Friedhof.

Mit mir und dem Muhtar zusammen waren wir bei der Beerdigung etwa 30-35 Personen. In der Regel nehmen an einer Beerdigung in dieser Region ohnehin nur etwa so viele Menschen teil, wie sie auch bei Arzu anwesend waren. Aber ich hatte mir mehr Teilnehmer erhofft. Ich war traurig, dass nicht mal wenigstens Interessierte aus der Region gekommen waren. Weder waren parteipolitische Vertreter dabei, noch irgendwelche Vertreter öffentlicher Behörden.

Das Grab wurde bereits am Tag zuvor ausgehoben und vorbereitet. Der Dorfsteher hatte für mich übersetzt und erklärte, dass Fotografien während der Beerdigungsfeier unangebracht seien. Zwei jesidische Landsleute haben den Sarg aus Deutschland überführt. Die Kosten für die gesamte Beerdigung wurden von jesidischen Familien, durch eine Spendensammlung in Deutschland finanziert. Es heißt pro Kopf wurden 50 EURO gespendet. Von Arzus Familie war allerdings niemand anwesend. Relativ zügig wurde Arzu samt dem Sarg beigesetzt und begraben. Gebete oder sonstige Andachtsreden wurden  nicht gehalten, zumindest habe ich keine bemerkt. Die Familie Özmen ist nicht groß und sie haben auch kein Familiengrab dort. Ich habe alle Grabsteine auf dem Friedhof abgesucht, aber es war niemand mit dem Namen Özmen beerdigt. Die meisten Anwesenden waren Neugierige aus Midyat, die von dem Vorfall hörten und entfernte Bekannte der Familie.

Die Beerdigung hat nicht sehr lange gedauert. Nach jesidischem Brauch wird großen Wert auf das Totenmahl nach der Beerdigung gelegt. Da allerdings die Familie der Verstobenen nicht anwesend war, konnte solch ein Zusammentreffen nicht arrangiert werden. Weiterhin werden gemäß der Tradition, nach der Beisetzung Pistolen- oder Gewährsalven in den Himmel abgegeben, um die Toten zu ehren. Auch dies fand nicht statt.

Hinsichtlich der Ermordung zeigten sich die Anwesenden relativ sicher, dass es von der Familie begangen wurde. Die Menschen munkelten, dass Arzu mit einem Andersgläubigen durchgebrannt sei und dass ihr Verhalten wohl das Ansehen und den Namen der Familie beschmutzt habe. Laut den Erzählungen im Dorf war Arzu einem anderen Mann versprochen. Doch sie wünschte die Beziehung zu einem Ungläubigen. Wäre sie nicht verlobt gewesen, dann hätte die Familie sie lediglich verstoßen. Jedoch war sie zur Ehe mit jemand anderem angedacht und Arzus Widerwillen brachte Schande über die Familie. Dem Verständnis der Dorfbewohner nach war Arzus Tod damit besiegelt. Allerdings kannte niemand Arzu persönlich oder hatten sie jemals getroffen.

An diesem Beispiel wird sehr gut deutlich, wie stark die Affinität unsere Landsleute zu Gerüchten ausgeprägt ist.
Wenn ein Mädchen umgebracht wird, so wird unmittelbar darauf geschlossen, dass sie sich ehrenlos verhalten haben muss. Im kausalen Zusammenhang tritt die Überzeugung in Erscheinung, dass die Familie mit einer Ermordung richtig gehandelt habe. Trotz der kulturellen, ethnischen und religiösen Vielfalt des mesopotamischen Raumes, gab es im Rollenverständnis der Geschlechter und im Verständnis von Ehre, stets eine gemeinsame Schnittmenge.

Ob arabisch-, kurdisch-, türkischstämmige Muslime oder Jesiden, in allen Gruppen finden sich sog. Ehrenmorde. Diese blutige Tradition exportieren sie in jegliche geografische Regionen der Welt und sorgen damit für ihr konstantes Erhalten im gesellschaftlichen System. Das bedeutet, dass Ehrenmorde kein originär jesidisches Phänomen ist, sondern ein Merkmal des ursprünglichen Lebensraumes.

Das Grab von Arzu haben sie in rechteckiger Form betoniert. Bei den umliegenden Gräbern ist mir ebenfalls ein rechteckig betoniertes Fundament aufgefallen. Nachdem der Beton getrocknet ist, wird die Grabstelle mit einem Stein aus Midyat bedeckt. Der Grabstein für Arzu war bereits vorhanden. Nur ihr Name und ihr Geburtsdatum, 21.04.1993, waren eingearbeitet. Der Gedanke, dass sie nur zwei Jahre jünger als meine jüngste Tochter war, versetzte mich in tiefe Trauer. Sie war im gleichen Alter wie die Tochter des Dorfvorstehers. Vielleicht werden sie ihr Todesdatum nachträglich hinzufügen, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind.  Ich hoffe dieser Mord wird vollständig aufgeklärt. Wenn dieser Tag gekommen ist, werde ich überprüfen, ob das Datum auf dem Grabstein nachgebessert wurde.

Ich war die einzige die Blumen zur Beerdigung mitbrachte. Es war mir wichtig Arzu mit einem Strauß Blumen auf ihrer letzten Reise zu geleiten. Sie war noch so ein junges Mädchen, wie eine Blume die man inmitten der Blüte ihres Lebens heraus riss.  

 

Kontakt für weitere Informationen:
Pressestelle peri e.V.
Bachgasse 44
D-69469 Weinheim
E-Mail: kontakt(at)peri-ev.de
Internet: www.peri-ev.de