Gerichtsbeobachtungen von peri e.V. zum vierten Prozesstag um die ermordete Arzu Özmen / 14. Mai 2012

Von RAin Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.

Der vierte Verhandlungstag beginnt mit der Anhörung des Freiburger Psychologen, Prof. Dr. Jan Kizilhan, der bereits eine Studie zum Thema Ehrenmorde verfasst hat. Prof. Kizilhan, der selber Jeside ist, führt zunächst in die Religion und Geschichte des Jesidentums ein.

Wissenswert für den konkreten Fall ist die Tatsache, dass man Jeside qua Geburt ist und gleichzeitig in eine Scheich-Familie und ein dem Jesidentum immanentes Kastensystem geboren wird. Eheschließungen sind sowohl nur unter Jesiden als auch nur innerhalb der Kaste möglich. Diese Heiratsverbote sind absolut. Verstöße stellen eine Ehrverletzung dar. Im Jesidentum gibt es keine geschlechtsspezifischen Besonderheiten, diese kamen erst mit dem Auftauchen der patriarchalischen Gesellschaften auf.

Die Jesiden waren in ihrer Geschichte zahlreichen Verfolgungen und Genoziden ausgesetzt. Inzwischen leben etwa 90 Prozent der türkischen Jesiden in Deutschland. In einem Land, indem sie erstmals nicht verfolgt werden. Aus Selbstschutzgründen lebten sie im Osmanischen Reich zurückgezogen und isoliert in einer Parallelgesellschaft, möglichst ohne Kontakt zur Außenwelt. Dies wurde erst in Deutschland in den 70er Jahren durchbrochen.

Wegen dieser Isolation gilt die Familie absolut, weil sonst die Existenz in einer feindlichen Umgebung gefährdet ist. Damit geht der Verzicht auf individuelle Freiheitsrechte einher.

Die Interessen der Familie stehen stets vor dem des Einzelnen. Das Kollektiv besitzt die Priorität. Entsprechend ist auch die Idee der Erziehung nicht individuell auf die Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtet, sondern es handelt sich um ein "Modell-Lernen", bei dem den Kindern beigebracht wird, sich im vorgegebenen Rahmen zu bewegen.

Der Angriff auf eine Person gilt gleichzeitig als der Angriff auf die ganze Familie. Besonders wichtig ist auch der Gehorsam. Dem Vater widerspricht man nicht. Innerpsychische Konflikte werden nicht angesprochen. Es geht immer darum, das Gesicht zu wahren. Eine Konfliktlösung erfolgt nur durch Vermeidung, Probleme werden nicht angesprochen.

Zum Begriff der Ehre führte Kizilhan aus, dass es sich dabei nicht um einen jesidischen Begriff, sondern um einen aus der patriarchalischen Gesellschaft handelt. Die Ausgrenzung bei einer Ehrverletzung habe früher rein ökonomische Gründe gehabt. Diese Existenzbedrohung besteht nicht mehr. Gleichwohl ist die Tradition so verinnerlicht, dass man nach wie vor Angst vor Ausgrenzung hat.

Zuständig für das Bewahren der Ehre ist die Frau bzw. ihre Sexualität. Hier besteht die beständige Angst, dass man mit negativen Gerüchten konfrontiert wird. Dem Mann obliegt die Aufgabe, den Schutz der Familienehre zu gewährleisten. Das Ansehen und die Ehre sind intakt, wenn die Familie bzw. der Mann in der Öffentlichkeit gut dasteht. Das Familienoberhaupt hat seinen Besitz zu schützen. Dazu gehören auch die Tochter und ihre Sexualität.

Arzu habe nun gleich mehrfach das Ansehen der Familie beschmutzt: Zum einen hat sie sich auf eine Beziehung zu einem Nicht-Jesiden eingelassen, den "Schutzkreis" der Familie aufgrund der vorehelichen Romanze verlassen und zum anderen den Vater angezeigt.

Während nun die 1. Generation der zugewanderten Jesiden sich auf die Tradition ihrer Herkunft bezieht, steht die 2. Generation bereits im Zwiespalt zweier Gesellschaften. Da sich diese 2. Generation dem Leid ihrer Eltern, die sie in der Verfolgung in den Ursprungsländern erlitten haben, bewusst ist, bemühen sich die Kinder, die Eltern auf keinen Fall zu verletzen. Diese Kinder stellen ihr eigenes Glück hinten an, da die Zufriedenstellung der Eltern am wichtigsten ist.

Kizilhan stellte fest, dass die Integration der Jesiden nach außen gelungen ist. Gerade die Mädchen und Frauen erreichen gute Bildungsabschlüsse. Am Beispiel der Familie Özmen ist das deutlich am beruflichen Erfolg von Sirin zu beobachten.

Das öffentliche Ansehen der Familie Özmen

Auf den konkreten Fall angesprochen erklärte Kizilhan, dass gerade in patriarchalischen Gesellschaften die Meinung der eigenen Gesellschaft ungeheuer wichtig ist. Auf beispielsweise einer Feier damit konfrontiert zu werden, dass man seinen "Besitz" nicht hinreichend schützen konnte, führt zu einem Verlust des Respekts vor dem Vater. An dieser Stelle soll auf eine E-Mail von Elvis an Arzu erinnert werden, die er am 30.10.2011 geschickt hat: „Warum meldest du dich nicht? Alle wissen Bescheid, dass eine Tochter von Fendi weggelaufen ist. Deshalb traut sich keiner mehr auf eine Hochzeit oder sonst rauszugehen. Du bist und bleibst eine Jesidin, Du kannst nicht einfach in eine andere Religion einsteigen. Arzu, warum tust du uns das an?“

Auf Nachfrage eines Verteidigers, dass schon einmal ein Kind der Familie Özmen, nämlich Kemal, eine Frau geheiratet hat, die der Familie nicht genehm war, erklärt Kizilhan noch einmal den Unterschied zwischen Ehrverletzung und Regelverletzung: Wenn die Frau eine Jesidin war, dann handelte es sich "nur" um eine Regelverletzung, die heilbar ist. Erst die Heirat mit einem Nicht-Jesidin stelle eine Ehrverletzung dar, die zu drastischeren Maßnahmen aufrufe.

Kizilhan verwies auch darauf, dass die Annahme der traditionellen Werte nicht geschlechtsspezifisch sei. Auch eine Frau könne die treibende Kraft sein, um an der Wiederherstellung der Familienehre "mitzuarbeiten".

Kizilhan wurde auch auf das von ihm bereits genannte ökonomische Prinzip angesprochen: Die Tatsache, dass fünf Geschwister auf der Anklagebank sitzen, widerspräche dem ökonomischen Prinzip, dass diese Maßnahme am sinnvollsten sei, um die Ehre wiederherzustellen. Dies bejahte Kizilhan.

Allerdings wird dabei übersehen, dass es allein die Entscheidung der Justiz war, alle fünf Geschwister in Haft zunehmen und auch anzuklagen. Dies war keine Entscheidung der Familie, weswegen die bekannten Vorgänge in der Tatnacht nicht zwangsläufig dem ökonomischen Prinzip widersprechen müssen.

Zeugenschutzprogramm für Kemal

Im Anschluss wurden die Einlassungen der Angeklagten bei der Polizei diskutiert. Insbesondere Kemal hatte mehrfach mit den ermittelnden Beamten gesprochen. Er habe auch nachgefragt, ob bei umfangreicher Aussage die Möglichkeit bestünde, ihn in ein Zeugenschutzprogramm zu übernehmen.

Kemal habe immer mal gesagt, er wolle mit seiner "Ursprungsfamilie" nichts mehr zu tun haben. In der Hierarchie dort stünde er noch unter dem jüngeren Osman, weil er eine Frau geheiratet habe, die der Familie nicht genehm war.

Er habe auch geäußert, dass er befürchte, die Geschwister hätten Arzu umgebracht, aber irgendwie könne er sich das doch nicht vorstellen, "sie ist doch unsere Schwester."

Sirin hatte seinerzeit den Beamten gesagt, Arzu lebe noch und ihre Rechtsanwältin kenne ihren Aufenthaltsort. Dies hatte dazu geführt, dass die Polizei die Anwaltskanzlei durchsuchte. Auf die Frage an Sirin, warum sie denn diese Behauptung aufgestellt hatte, erwiderte sie: „Ich habe damals doch noch gedacht, dass Arzu lebt.“

Aussagen der ermittelnden Beamten

Beachtenswert war die Einlassung eines der vernehmenden Beamten, der von einem der Verteidiger gefragt wurde, was sein Eindruck über die Angeklagten, im Rahmen der ganzen Ermittlungen, gewesen sei. Er erwiderte zunächst, dass es sich bei den Angeklagten nicht um "professionelle Killer" handelte.

Er erklärte weiter, dass durch die Entführung eine Hektik und Dynamik entstand, die dazu führte, dass die Geschwister nicht wussten, was sie als Nächstes machen sollten. Aber er sei auch der festen Überzeugung, dass schon vor der Tat der Entschluss gefasst worden sei, dass etwas passieren müsse, eventuell Arzu auch zu töten.

Aus den abgehörten Telefonaten nach Arzus Entführung stand zumindest für die Verwandten die Tötung im Raum. Die Familie habe gemerkt, dass man Arzu allein mit Prügel nicht mehr in die Familie zurückholen könne. Kemal wollte dies möglicherweise verhindern, hatte aber nicht "den Arsch in der Hose", um die Geschwister davon abzuhalten.

Dieser Beamte wurde auch gefragt, wie er sich erklären könne, dass im Wagen keine Blutspuren gefunden worden seien. Dies war auch ihm rätselhaft. Er vermutet eine Präparierung des Wagens. Man habe auch die Nutzung eines anderen Fahrzeugs in Erwägung gezogen oder die Tötung am Fundort.

Abgehörte Telefonate

Des Weiteren wurde die Auflistung der Telefonate, die in der Tatnacht zwischen den Geschwistern geführt wurden, verlesen. Es wurde von abgehörten Telefonaten berichtet, die nicht in das Verfahren eingeführt wurden, weil es sich um Gespräche über die Familie Özmen handelte. Dennoch bieten die Gespräche wichtige Eindrücke.

So wurde in einem Telefongespräch gefragt, wie lange man denn um Arzu trauern solle, eine Woche oder vier Wochen. Es hieß dann, „Fendi (der Vater) will gar keine Trauerzeit.“ In einem weiteren Telefonat unter Verwandten wird gesagt, Fendi sei nur sauer, weil man Alex nicht auch umgebracht habe.

Das psychologische Gutachten

Abschließend wurde der forensische Psychiater gehört, ob bei den Angeklagten möglicherweiser Anhaltspunkte vorliegen, die auf eine Schuldunfähigkeit oder eingeschränkte Schuldfähigkeit schließen ließen. Dies wurde verneint. Alle Angeklagten verweigerten eine persönliche Untersuchung, weswegen das Gutachten auf den Eindrücken aus der Hauptverhandlung basiert.

Der Psychiater führt weiter aus, dass es bei Osman keinen Hinweis auf blinde Wut oder einen Affektstau gebe. Die für Affekttäter üblichen Strukturen ließen sich bei Osman Özmen nicht entdecken. Es gebe keinen Hinweis auf einen Auslöser der Tat, wie etwa eine panische Reaktion. Es habe keinen Erregungssturm gegeben, der Osman zu den Schüssen veranlasst haben könnte.

Der Richter gab noch den rechtlichen Hinweis, dass für Sirin und Kirer eine Verurteilung wegen Geiselnahme und Beihilfe zum Mord in Betracht komme, für Kemal und Elvis Geiselnahme und gefährliche Körperverletzung.

Einer der Verteidiger behielt sich einen Beweisantrag vor. Ansonsten werden am Mittwoch, den 16. Mai 2012, nur noch die Plädoyers gehalten.

Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.
Detmold, 17. Mai 2012

 

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