Gerichtsbeobachtungen von peri e.V. zum dritten Prozesstag um die ermordete Arzu Özmen / 09. Mai 2012

Von RAin Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.

Vor der Vernehmung der geplanten Zeugen für den dritten Prozesstag, wurde die Erklärung verlesen, dass sowohl die Eltern Özmen als auch die Ehefrau von Kemal die Aussage verweigern würden. Aus diesem Grund wurden sie nicht geladen.

Zeugenaussagen von Mithäftlingen

Mitinsassen von Kemal und Elvis, die bei der Polizei zuvor Aussagen machten, was sie während der Haftzeit mitbekamen, nahmen diese vor Gericht zurück. Sie behaupteten alles erfunden zu haben. Zumindest einen dürfte demnächst ein Ermittlungsverfahren wegen Falschaussage erwarten, denn dieser Zeuge behauptete, er habe sich alles nur ausgedacht.

Obwohl die Angaben angeblich der Fantasie entsprungen seien, enthielten sie zahlreiche Einzelheiten, die inzwischen schon von den Geschwistern gestanden wurden. Doch der Mithäftling behauptete steif und fest, auch das habe er sich alles ausgedacht.

Alle diese Zeugen erweckten den starken Eindruck, dass sie erhebliche Ängste hatten, dass ihnen im Fall einer Aussage Repressalien drohten. Einer bestätigte sogar auf Frage des Richters, dass er bedroht worden sei. Ein anderer regte sich lange auf, dass die Staatsanwaltschaft, ohne seine Genehmigung, seinen Namen als Zeugen in diesem Prozess genannt hatte.

Arzu, die Schwester, die es nicht gibt

Ein Zeuge wurde gehört, der am 31.10.11, also am Abend vor der Entführung, Kirer in einem Spielsalon getroffen hatte.  Dieser Zeuge war im sozialen Netzwerk "SchülerVZ" mit Arzu befreundet. Arzu hatte einige Tage zuvor ein Foto seines Fahrzeuges kommentiert und es als „tolles Auto“ bezeichnet. Das blieb nicht umbemerkt. Kirer habe noch am gleichen Abend den Zeugen kontaktiert und gefragt, ob er das Mädchen kenne, die das Foto kommentierte. Kirer gab an, das Mädchen kennenlernen zu wollen. Der Zeuge wusste nicht, dass Arzu und Kirer Geschwister sind. Er sollte Arzu anschreiben und sich mit ihr verabreden.

Ein weiterer Zeuge, ein Arbeitskollege von Kirer, berichtet, dass der VW-Bus, der Kirer seitens der Firma zur Verfügung gestellt worden war, stark verschmutzt gewesen sei. Weder er noch sein Chef hätten eine Ahnung, wo der Wagen so schmutzig geworden sein könnte, weil man auch keine Baustellen habe, die eine solche Verschmutzung hervorrufen könnte.

Dieser Zeuge berichtete ferner von einem Disco-Besuch gemeinsam mit Kirer, bei dem sie eine Krankenschwester kennengelernt hätten. Kirer habe gemeint, die müsse man sich warmhalten. Er habe Schlafstörungen und benötige eine Schlafmaske sowie Schlaftropfen. Von seiner Schwester Arzu habe Kirer nie geredet. Der Zeuge wusste gar nichts von ihrer Existenz. Brauchte Kirer die Schlaftropfen wirklich für sich selbst? Eine Frage, die sich unweigerlich aufdrängt.

Die selbst ernannten Friedensrichter im Einsatz

Im Anschluss wurde ein Zeuge gehört, der wohl als ehrenamtlicher Streitschlichter in der kurdischen Community bezeichnet werden kann. Jedenfalls berichtete er von zahlreichen Fällen aus dem gesamten Bundesgebiet, in denen sich Familien an ihn wenden, weil ihnen beispielsweise ein Familienmitglied „abhandengekommen“ ist. Er versuche dann den Kontakt zu vermitteln, damit man wieder miteinander spricht. Auch Herr Özmen sei zu ihm gekommen und habe ihn um seine Hilfe gebeten, weil Arzu vermisst sei.

Der Streitschlichter hatte zunächst Kontakt mit der Polizei aufgenommen, die ihn nur darauf hinwies, dass Arzu erwachsen sei und tun und lassen könne, was sie wolle. Von dort erhielt er keine Auskünfte. Herr Özmen erschien dann mit der Anschrift eines Rechtsanwaltsbüros, wo der Zeuge anrief und nach Arzu fragte. Man habe ihm dort recht unhöflich mitgeteilt, dass man von einer Mandantin mit diesem Namen nichts wisse. Einzelheiten zu dem Gespräch mit Herrn Özmen konnte der Zeuge jedoch auch nicht beitragen, denn er habe so viele Kontakte, dass er sich nicht an alle erinnern könne.

Dies erstaunt insofern, als die Kontaktaufnahme kurz vor Arzus Entführung erfolgte und man meinen sollte, ein derartiger Klient bleibt einem im Gedächtnis – es sei denn, man hat ständig mit derartigen Fällen zu tun. Es erschließt sich auch nicht unbedingt, warum die Familie Özmen diesen Streitschlichter einschaltete. Angeblich geschah dies, weil die Eltern nicht gut Deutsch sprechen. Tatsächlich spricht allerdings Sirin ein deutlich besseres Deutsch als dieser Zeuge. Erstaunlich war auch, dass der Zeuge sich so über die Reaktion der Anwaltskanzlei empörte. Anscheinend ist dem Zeugen nicht bekannt, dass Anwälte der Schweigepflicht unterliegen und gerade in einem derart brisanten Fall ihre Informationen nicht irgendjemandem am Telefon preisgeben.

Briefe an Arzu

Es werden anschließend diverse Schreiben verlesen. Sirin hatte einen Brief per Einschreiben/Rückschein an das Frauenhaus in Oberhausen geschickt, weil sie, solle der Rückschein unterschrieben zurückkommen, die Gewissheit hätte, dass Arzu sich dort aufhielt.

Ferner hatte sie für ihren Vater ein Schreiben an die Polizei verfasst, in dem dieser darum bat, dass man ihm Kontakt zu Arzu vermittele. Dieses Schreiben wurde vollständig verlesen und enthielt u.a. Sätze wie „Eltern haben Erwartungen an ihre Kinder [...] sie sollen älteren Menschen immer Respekt entgegenbringen [...] Ich weiß nicht mehr, was ich getan habe [...].“

Für die Mutter hatte Sirin ein Schreiben beigelegt, in dem es u.a. hieß: „Ich möchte meine Tochter zurück. Du brauchst keine Angst zu haben, wir tun dir nichts.“

„Wenn die mich finden, bin ich eine tote Frau“

Aus der Verlesung einiger Chat-Protokolle wird deutlich, dass Arzu den Kontakt zu einer Freundin suchte. Dabei weist sie diese Freundin am 8.9.2010 ausdrücklich darauf hin, dass sie mit niemandem aus der Familie Özmen, auch nicht aus dem weiteren Umfeld,  darüber sprechen solle. Niemand solle erfahren, dass sie Kontakt zu Arzu hat, denn: „Wenn die mich finden, bin ich eine tote Frau.“

Die Freundin warnt Arzu, dass die Familie sich ein falsches Benutzerkonto in dem sozialen Netzwerk einrichten könnte, um an Informationen heranzukommen. Arzu ist sich dessen bewusst, denn sie sagt der Freundin, diese solle nur auf den Account antworten, auf dem jetzt gechattet wird. Die Familie hätte das schon mal gemacht: „Mein Vater hat mit einem Stock das Zugangspasswort aus mir herausgeprügelt.“

Weiter sagt Arzu: „Die drehen voll durch, ich hoffe, dass sie Alex nichts tun. Die wollen, dass ich zurückkomme. Du weißt schon, die Ehre der Familie.“ Sie verweist anschließend auf das Lied des Rappers Eko Fresh „Köln-Kalk Ehrenmord“ und sagte dazu: „Wenn ich nicht gegangen wäre, wäre ich so geendet. Das Lied ist die Wahrheit.“

E-Mail für dich - Die emotionale Erpressung

Die Verlesung diverser E-Mails hat einen deutlichen Einblick in die Gedankenwelt der Familie Özmen gegeben. Weit mehr als die meisten Zeugenaussagen und erst recht die Einlassungen der Angeklagten.

In der Zeit vom 06.09 bis zum 30.10.2011 haben einige Familienmitglieder E-Mails an Arzu verschickt. Die meistern der E-Mails stammen von Sirin, bei einigen ist nicht ganz klar, wer Absender ist. In diesen Nachrichten wurde ein unendlicher Druck auf die junge Frau ausgeübt. Es wird gebettelt, gedroht, mit emotionalem Druck gearbeitet und dabei vor den extremsten Lügen nicht zurückgeschreckt.

So auch hier:

„Bitte komm zurück, Vater ist im Krankenhaus. Nimm die Anzeige zurück. Wir wissen, dass du das Passwort geändert hast. Dein Vater wird sterben, haben die Ärzte gesagt. Komm zurück, noch ist es nicht zu spät. Egal wo du bist, wir kriegen dich. Noch weiß keiner, was passiert ist.“

Eine halbe Stunde später: „Arzu, komm zurück, deinem Vater geht es schlecht, sein Herz ist stehen geblieben. Siro weiß, wo du bist, aber komm von allein.“

Weitere 5 Minuten später: „Schon traurig, dass ich mich die ganzen Jahre in dir getäuscht habe.“

Einen Tag später: „Oh Gott, du hast Vater und Osman angezeigt. Zieh die Anzeige zurück, mehr erwarte ich nicht.“

Kurz danach: „Komm nach Hause und zieh die Anzeige zurück, sonst hole ich dich.“

Einen Tag später: „Ich mache mir so langsam Sorgen. Ich schwöre, keiner erfährt etwas, wenn das deine Angst ist.“

Kurz danach: „Ich flehe dich an, komm von deinem Weg zurück. Du bist keine Christin. Es ist keine Lösung. Papa ist stumm geworden."

Wieder einen Tag später: „Ich hoffe, du hast dir gut überlegt, was du machst. Auch Alex ist der Meinung, du solltest zurückkehren. Ganz ehrlich, du bist Jesidin. Du kennst mich und meine Hartnäckigkeit."

Kurz danach (wohl von einer Verwandten): „Hallo Arzu, komm zu mir. Ich lasse niemand von den Özmens dich sehen. Du bist doch ein Mädchen aus gutem Haus und Jesidin.“

Dann ist tatsächlich 3 Tage Ruhe, bis es am 13.9. wieder beginnt: „Wann kommst du endlich wieder zurück? Papa und Mama geht es sehr schlecht. Mama weint und liegt im Bett. Komm zurück und gib diesem Elend ein Ende.“

Am nächsten Tag: „Papa sagt, es sei nicht schlimm, er habe mit einem Anwalt gesprochen. Wir tun dir nichts, komm nach Hause, ich weiß nicht, wovor du Angst hast. Mir geht es nicht gut, wenn du nicht zu Hause bist.“

Nach weiteren 4 Tagen meldet sich dann mal Kemal: „Was ist mit dir los? Bist du behindert? Melde dich.“
Dann wieder Sirin: „Was ist mit dir los, melde dich. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich verstehe dich nicht. Willst du dich dein ganzes Leben verstecken? Vielen Dank, dass du uns erst einmal die Schwester genommen hast und dann unseren Papa in den Knast bringst. Fatma und Fidan vermissen dich ganz doll. Papa ist die ganze Zeit am Weinen. Nimm die Anzeige zurück, das ist doch peinlich.“

Am 21.9. erhält Arzu dann diese E-Mail: „Dein Vater ist gestorben.“

Am nächsten Tag von Kemal: „Was du machst ist das Allerletzte. Mein Vater ist am Ende.“

Am 6.10. meldet sich dann Kemals Ehefrau: „Wo steckst du? Warum meldest du dich nicht? Nach einiger Zeit wirst du alle vermissen, dann ist es zu spät. Deine Nichten vermissen dich. Du brauchst vor niemandem Angst zu haben.“

Am 9.10. ebenfalls von Kemals Ehefrau: „Ich hätte das nie von dir erwartet. Freunde kommen und gehen, aber die Familie kann man nicht ersetzen. Ich habe meine Schwester so verloren, ich will nicht auch noch meine Schwägerin so verlieren.“

Am 30.10. schickt dann Elvis eine E-Mail: „Warum meldest du dich nicht? Alle wissen Bescheid, dass eine Tochter von Fendi weggelaufen ist. Deshalb traut sich keiner mehr auf eine Hochzeit oder sonst rauszugehen. Du bist und bleibst eine Jesidin, Du kannst nicht einfach in eine andere Religion einsteigen. Arzu, warum tust du uns das an?“

Gerade die letzte E-Mail zeigt sehr deutlich, dass es der Familie weniger um Arzu ging, als um den eigenen Ruf in der jesidischen Gemeinde. Dieses Ansehen hatte offenbar schon gelitten, weil eine Tochter unverheiratet die Familie verlassen hatte, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dies konnte eben nicht geduldet werden. Die Frage Sirins, ob Arzu sich ihr ganzes Leben verstecken möchte, zeigt, dass für die Familie keine Vergebung in Betracht kam. Man würde Arzu suchen, egal wie lange das dauert.

Am 14.5.2012 ist der nächste Verhandlungstermin.

Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.
Detmold, 09. Mai 2012

 

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