Gerichtsbeobachtungen von peri e.V. zum zweiten Prozesstag um die ermordete Arzu Özmen / 07. Mai 2012

Von RAin Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.

Der zweite Prozesstag war, was den Andrang anging, deutlich entspannter. Neben einigen Verwandten/Bekannten noch einige Rentner, Referendare und Studenten, aber nicht der Massenandrang vom Prozessauftakt.

Der Prozess begann mit der Frage an Osman, den Tathergang noch einmal genau zu schildern. Er erklärte, dass er mit Arzu vom Wagen weggegangen sei. Dabei habe sie die ganze Zeit herumgeschrien, sodass er sie fester packte. Trotzdem habe Arzu weiter geschrien und Osman bespuckt. Als Arzu dann auf dem Boden lag, habe er sie an der linken Schulter gehalten. Aufgrund ihres Widerstands habe sich ihr Kopf die ganze Zeit bewegt. Die Frage des Richters, ob dies auch beim Schuss der Fall gewesen sei, bejahte Osman. Die Waffe habe er schon entsichert in seiner Tasche gehabt.

Der Richter fragte dann, wer Arzus Leiche in den Kofferraum legte. „Kirer und ich“, erwiderte Osman. „Wer kam auf die Idee?“, hakte der Richter nach. „Kirer“, erklärte Osman einsilbrig. Kirer bestätigte die Darstellung, denn er habe seinem Bruder helfen wollen.

Die Fahrt nach Hamburg

Nach wie vor unverständlich ist die gesamte Darstellung zu der Fahrt nach Hamburg. Die Geschwister äußerten, dass sie davon ausgingen, die Polizei warte womöglich bereits in der Wohnung von Kemal, zu der sie Arzu angeblich ursprünglich bringen wollten.

Kirer erklärte weiterhin, dass er befürchtete, die Polizei würde wahrscheinlich auch in Hamburg schon auf sie warten. Die äußerst naheliegende Frage, was die Geschwister denn dann machen wollten, konnte er nicht beantworten. Er entgegnete lediglich, dass er soweit nicht gedacht habe.

Man habe auch zu keinem Zeitpunkt mit dem Onkel aus Hamburg telefoniert.  Die Idee, dorthin zu fahren, sei von Sirin gekommen. Kemal kannte den Onkel nach eigenen Angaben kaum. Kirer erklärte, man sei zuletzt im August 2011 dort gewesen. Allerdings konnte er den Anlass für den Besuch nicht mehr nennen.

Sirin - die treibende Kraft

Sirin gestand ein, bezüglich der Entführung, die treibende Kraft gewesen zu sein. Die Tötung wird von ihr als das „Desaster“ tituliert, das offenbar so plötzlich über die Familie hereinbrach. Sie habe zuvor keinen Gedanken an ein solches „Desaster“ verschwendet. Während der Fahrt habe sie sich in aller Ruhe mit Arzu unterhalten, die damit einverstanden war, zum Onkel nach Hamburg gebracht zu werden. Sie, Arzu, werde dann auch wieder zur Familie zurückkehren und nichts mehr mit Alex zu tun haben.

Bekannterweise öffnete der Onkel in Hamburg die Tür nicht. Wer auf den Gedanken kam, zu einem anderen Onkel nach Lübeck zu fahren, konnte nicht geklärt werden. Auch die durchaus nachvollziehbare Frage des Staatsanwalts, warum man nach dem ersten Fehlschlag denn nicht den Onkel in Lübeck angerufen habe, um nicht auch dort vor verschlossener Tür zu stehen, konnte niemand beantworten.

Sirin berief sich auf die „Ausnahmesituation“, in der sie sich befand. Diese Ausnahmesituation hinderte aber nicht den logischen Gedankengang, dass man Telefone abhören könne, weshalb Sirin befürchtete, die Polizei könnte Arzu wieder wegholen. Auch hier stellt sich die Frage, warum die Polizei das tun sollte, wenn Arzu doch mit dem Verbringen zum Onkel einverstanden gewesen sei. Das eine ist eine strafrechtliche Verfolgung der Entführung. Damit geht nicht zwingend einher, Arzu wegzuholen. Sie war erwachsen und hätte jederzeit entscheiden können, zu ihrem Onkel zu gehen.

Die Zeugenaussagen der Familie Müller

Anschließend wurden die Eheleute Müller sowie ihre Schwiegertochter vernommen. Beklommen hörte man, dass die Kinder Özmen letztlich fast alle schon in der Bäckerei gearbeitet hatten und von den Müllers wie zur eigenen Familie gehörig betrachtet wurden. Frau Müller sagte einen Satz, der sich tief einprägte: „Ich schäme mich, dass ich von Arzus Kummer nichts mitbekommen habe. “ Dieser Kummer blieb offenbar lange hinter der Wohnungstür der Özmens nicht sichtbar. Selbst für Leute, die sich der Familie nahe fühlten.

Nachdem Arzu geflohen war, seien Frau Özmen und Elvis bei Familie Müller gewesen, um zu erfahren, ob diese Kontakt zu Arzu hätten. Das war nicht der Fall.

Die Schwiegertochter der Müllers, der man den Kummer deutlich anhörte, erzählte, dass Arzu einmal gesagt habe, wenn sie mal nicht mehr da sei, dann sei sie in der Türkei oder tot.

Ferner berichtete sie davon, dass sie nach dem Fund der Leiche, gemeinsam mit Herrn Johannes Müller, sowie einem evangelischen und jesidischen Geistlichen zur Familie Özmen gegangen war, um diesen ihre Trauer auszudrücken. Von der Familie seien sie aber zurückgewiesen worden. Verbunden mit der Ablehnung war die Schuldzuweisung: „Ihr seid schuld, dass Arzu tot ist und fünf Kinder im Gefängnis sind.“

Herr Müller berichtete noch von einem Gespräch, das er mit Sirin hatte. In dieser Unterhaltung soll sie gesagt haben, sie könne auf keinen Fall dulden, dass Arzu mit Alex zusammen sei. Sie wollte ständig wissen, ob Familie Müller Kontakt zu Arzu hätte. Herr Müller hatte dann einmal gefragt, was sie denn täte, wenn Arzu zurückkäme. Dies konnte Sirin nicht beantworten, auch wenn Herr Müller darauf hinwies, dass Gewalt sicher keine Lösung sei.

Herr Müller, der die Familie nun wirklich lange kennt, bestätigte auch den Eindruck, dass Sirin quasi eine Ersatzmutter war und auch gegenüber den Brüdern, wenn die Eltern nicht da waren, die Rolle des Familienoberhauptes ausfüllte.

Johannes Müller erinnert sich, Elvis ganz konkret gefragt zu haben, ob er die Beziehung zwischen Alex und Arzu auch mit Gewalt beenden würde. Dies habe Elvis zwar nicht mit einem deutlichen und einfachen „Ja“ beantwortet, seinen Ausführungen konnte man aber entnehmen, dass er dazu durchaus bereit war.

Vernehmung der Freunde und Bekannten von Sirin Özmen

Anschließend wurde eine in Tränen aufgelöste Arbeitskollegin von Sirin gehört, die sich zwar als „sehr gute Freundin“ bezeichnete, aber gleichwohl erst drei Wochen nach Arzus Verschwinden von Sirin hörte, dass es mit Arzu Streit wegen der Schule gab. Auch erst später erfuhr sie, dass Arzu eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt gegen den Vater erstattet hatte. Sirin habe ihr auch nichts von der  Beziehung zwischen Arzu und Alex gesagt.

Die Freundin führte weiter aus, dass sie auf ihren eigenen Namen ein Konto für Sirin einrichtete. Auf dieses Konto überwies Sirin Teile ihres Einkommens, da sonst alles an die Familie abzugeben war und sie doch auch für sich eine finanzielle Rücklage haben wollte.

Im Anschluss wurde die Mutter dieser Arbeitskollegin gehört, die sich ebenfalls als gute Freundin von Sirin bezeichnete, die oft mit ihr joggen gegangen sei. Allerdings war auch ihr nicht bekannt, dass Arzu einen deutschen Freund hatte. Sirin hatte wohl von der Anzeige gegen den Vater erzählt, aber die Zeugin habe nicht nachgefragt, was denn vorgefallen sei. Auch habe Sirin nie von Arzu erzählt. Nur zum Schluss mal, und da habe sie Arzu als „Schlampe“ bezeichnet. An dieser Stelle soll auf Sirins Einlassung vom ersten Prozesstag verwiesen werden, in der sie erklärte, dass sie und Arzu so eng gewesen seien und alles gemeinsam gemacht hätten.

Sirin selber wäre gern von zu Hause ausgezogen, aber sie sagte, dass sie dann von der Familie ausgeschlossen werde. Sirin hätte sich sehr eingeschränkt und sei unglücklich gewesen, dass sie nicht mehr Freiheiten hatte.

Sirin hätte ihr einmal einen Beutel mit einer Kassette gegeben, in der Papiere und Schmuck seien. Die Zeugin habe auch hier nicht weiter nachgefragt. Allerdings sei irgendwann später einer der Brüder gekommen und habe nach der Kassette „der Familie“ gefragt. Sie habe diese nicht herausgegeben, weil es Sirin gehörte. Daraufhin haben sie den Behälter anschließend der Polizei übergeben.

Interessant war auch ein SMS-Wechsel zwischen der Zeugin und Sirin. Am 31.10.2012 hatte man sich per SMS für den 1.11.2012 zum Joggen verabredet. Um 07:00 Uhr sei dann eine SMS von Sirin gekommen, bei der sie die Verabredung absagte, weil sie gerade von einer Feier gekommen sei – dies war der Zeitpunkt, als man von dem nächtlichen Ausflug, der die Tötung Arzus einschloss, nach Hause kam.

Ausführungen der Gerichtsmediziner

Von den Ausführungen der Gerichtsmediziner blieben die im Gedächtnis, die sich auf die Untersuchung des Schädels bezogen. Hier wurde deutlich gemacht, dass Arzu durch zwei aufgesetzte Kopfschüsse getötet wurde. Die Einschusslöcher seien so nah beieinander, dass dies nur möglich gewesen sei, wenn es sich um eine automatische Waffe gehandelt habe oder der Kopf in statischer Haltung fixiert gewesen sei – ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Behauptung von Osman falsch ist, dass Arzu den Kopf bewegt habe.

Der Richter fragte danach, wie es kommen kann, dass im Fahrzeug keinerlei Blut gefunden wurde. Auch hier die deutliche Antwort des Gerichtsmediziners, dass, wäre dort irgendwann mal Blut gewesen, wäre dies bei der kriminaltechnischen Untersuchung auch festgestellt worden. Auch eine Decke hätte dies nicht verhindert. Kirer Osman gab bei der ersten Prozessvernehmung an, zu Hause, nach der Tat, den VW gereinigt zu haben.

Vernehmung der Verwandten

Anschließend wurden zwei entfernte Verwandte der Familie Özmen vernommen. Die Cousine berichtete, dass sie bei der Familie Özmen gewesen war, um via Computer herauszufinden, wo Arzu sich befinde. Auch hier wurde es ziemlich skurril. Obwohl die Cousine abends mit der Familie zusammen nachgesehen hatte, ob Arzu online war, kam sie angeblich nachts um 00:50 Uhr, als sie feststellte, dass Arzu online war, nicht auf den Gedanken, die Familie Özmen anzurufen.

Diese Cousine verwies im Übrigen mehrfach darauf, dass auch zwei ihrer Schwestern die Familie verlassen hätten und sie wisse, wie traurig das sei. Aber sie sei der Meinung, wer ziehen will, den solle man gehen lassen – gleichwohl führt sie aus, wie stark sie sich engagierte, Arzu wiederzufinden.

Sie beschrieb allerdings noch, wie sie nach der Tat bei der Familie Özmen war und dort Besucher traf, die lediglich um die fünf inhaftierten Geschwister trauerten, nicht jedoch um Arzu.

Weitere Zeugenaussagen

Interessant war auch noch die Aussage des ehrenamtlichen Mitarbeiters des Weißen Rings, der Arzu während ihres Aufenthalts im Frauenhaus betreute. Er erklärte, Arzu habe zu keinem Zeitpunkt mit dem Gedanken gespielt, zur Familie zurückzukehren. Das Thema sei für sie beendet gewesen. Sie sei aber sehr zuversichtlich gewesen, was ihre Zukunft betrifft.

Der Zeuge beschrieb Arzu als nettes aufgeschlossenes Mädchen, das aber sehr verängstigt gewesen sei.

Überhaupt bekommt man ein Bild von der Person Arzu nur durch die Aussagen mehr oder weniger unbeteiligter Zeugen. Die Familie vermag kein Bild von Arzus Persönlichkeit zu vermitteln, außer dass sie schulisch versagt habe, Drogen nahm und eben zur Familie gehörte.

Der Richter verlas anschließend die Ergebnisse von Nachermittlungen:

  • Die Fahrtstrecke, die von Sirin beschrieben wurde, hätte in der angegebenen Zeit zurückgelegt werden können.

 

  • Vom August bis Oktober 2011 gab es keine Tickets der Fluggesellschaft Turkish Airlines auf den Namen Özmen.

 

  • Es ist vorstellbar, dass die Fahrt unmittelbar nach Norden ging, auch wenn dies angesichts der Funksignale erst unwahrscheinlich erschien.

 

  • Gegen Kirer Özmen war im Oktober 2010 bereits ein Platzverweis nach dem Gewaltschutzgesetz ausgesprochen worden, weil er seine Frau misshandelt hatte. Diesen Platzverweis hatten im Übrigen die drei anderen Brüder genutzt, um in die Wohnung ihrer Schwägerin einzudringen und das Schloss auszuwechseln. Als sie von der Schwägerin überrascht wurden, ging Osman auf diese mit der Bohrmaschine los, auf ihren Vater mit bloßen Fäusten.


Kemal gab im Übrigen an, er habe bei der Polizei seinerzeit „viel Scheiße“ erzählt, um aus der Haft zu kommen. Damit erklärte er die eklatanten Abweichungen seiner polizeilichen Aussage im Vergleich zu seinem Vorbringen bei Gericht. Die Ermittlungsrichterin beim Amtsgericht Detmold hatte ihn auf Antrag der Staatsanwaltschaft unter Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen, weil er als Einziger der Beschuldigten eine Aussage gemacht hatte.

Am Mittwoch (09. Mai 2012) wird das Verfahren fortgesetzt.

Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.
Detmold, 07. Mai 2012

 

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