Gerichtsbeobachtungen von peri e.V. zum ersten Prozesstag um die ermordete Arzu Özmen / 30. April 2012
Von RAin Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.
Da einige Zeitungen per Live-Ticker über das Verfahren berichteten, soll die folgende Darstellung über die reinen Fakten hinausgehen und die Eindrücke während des Prozesses beschreiben.
Osmans Geständnis
Wie aus der Presse bekannt, hat der Bruder Osman gestanden, Arzu durch zwei Schüsse getötet zu haben. Dies hatte zuvor, in einer langen Erklärung, auch die Schwester Sirin gesagt. Trotz der
Geständnisse bleiben die Aussagen zweifelhaft. War es wirklich Osman oder nimmt er die Schuld auf sich? Und wenn ja, warum macht er dies?
Beachtlich ist, dass Osman der Erfolgloseste der Familie zu sein scheint: Zwar haben die anderen Brüder keine ähnlich vielversprechende Laufbahn wie die Schwester Sirin absolviert, haben aber alle
eine Ausbildung abgeschlossen und arbeiteten auch in diesen Berufen. Nur Osman nicht - der machte zuletzt ein Praktikum, nachdem sein Versuch, bei der Bundeswehr Fuß zu fassen, gescheitert war.
Sirins Aussagen
Sirin verlas ihre Erklärung, bei der – neben den reinen Fakten, deren Wahrheitsgehalt vom Richter bereits vorsichtig angezweifelt wurde - ihre eigene Befindlichkeit im Mittelpunkt stand.
Unvergesslich der Satz, als Sirin ihre beruflichen Erfolge schilderte, dass sie nämlich einen Lehrgang gemacht habe zum Aufstieg in den gehobenen Dienst und die Prüfung machen wolle: „Aber das kann
ich ja jetzt knicken“. Es hatte den Anschein als würde Sirin Arzu die Schuld dafür geben. Weiter führte sie aus, wie sehr sie doch Arzu liebte, wie sehr sie sich um sie kümmerte und wie sehr sich
Arzu verändert habe: Plötzlich habe sie nach Alkohol gerochen, sie habe Gras geraucht, man habe in ihrem Zimmer einen Schwangerschaftstest gefunden und sie habe einen blauen Brief von der Schule
bekommen. Arzu war offenbar ein übler Mensch geworden. Es muss darauf hingewiesen werden, dass sämtliche später vernommenen Zeugen erklärten, dass Arzu kaum trank, höchstens mal ein Glas Bier, und
auch kein Haschisch rauchte.
Sirins Versuch, sich selber als leidendes Opfer darzustellen, fand beim Richter wenig Gehör. Zwar bat ihr Verteidiger zwischendurch um eine Unterbrechung, aber der Richter war da ziemlich eindeutig:
„Sie haben lange Zeit gehabt, sich auf diese Erklärung vorzubereiten. Hier sitzen manchmal Kinder, bei denen es mir wehtut, dass sich sie aussagen lassen muss, da werden Sie das jetzt auch zu Ende
bringen“.
Zu der Darstellung der Tatsachen lt. Sirin:
Sie habe versucht mit Arzu, nachdem diese verschwunden war, Kontakt aufzunehmen. Die entsprechenden Versuche, durch ihre Arbeit bei der Stadtverwaltung an Daten heranzukommen, sind hinlänglich
bekannt. Weiter behauptete Sirin, mit Alex abgesprochen zu haben, Arzu ein Handy zu schicken, damit sie mit ihr Kontakt aufnehmen könne, nur sie und Alex, sonst niemand. Dieser Darstellung
widersprach Alex bei seiner Vernehmung: „Warum hätte ich das tun sollen? Ich hatte ihr erst zwei Wochen zuvor ein Handy geschenkt, da hätte ich kein neues besorgen müssen.“ Er habe vielmehr nach
einiger Zeit ein Schreiben bekommen mit einer Rechnung für ein Handy, mit dem er sogar zur Polizei gegangen ist, weil er vermutete, dass jemand auf seinen Namen eine Bestellung aufgegeben hatte.
Womöglich war das ein Versuch der Schwester, Arzu per Handy ausfindig zu machen.
Die Familie habe Arzu verstoßen, wer genau, blieb im Dunkeln. Das habe sie, Sirin, nicht ausgehalten, denn Arzu sei doch die Schwester gewesen und könne doch nicht einfach vergessen werden.
Auffallend war Sirins oft neutrale Wortwahl "man" und diverse Passiv-Konstruktionen, die weitere Fragezeichen hinterließen.
Wie Arzu aus der Wohnung von Alex rausgeholt wurde, ist bekannt. Widersprüchlich bzw. zunächst unerklärlich ist, warum Sirin, obwohl „die Familie“ mit Arzu nichts mehr zu tun haben wollte, diese
trotzdem zurückholen und wieder zur Familie bringen wollte. Dieser Umstand erweckt den Eindruck, als ob Sirin eine dominante Rolle in der Familie inne hat. Nicht selten übernehmen Frauen die
Mentalitätsmuster, Denk- und Verhaltensweisen von Männern in patriarchal geprägten Gesellschaften.
Es ist durchaus denkbar, dass Sirin als ältestes Kind der Familie, in die Rolle der „zweiten Mutter“, einer wahren Hüterin der Traditionen hineinerzogen wurde. Diejenige die darauf achtet, dass die
jüngeren Frauen die Verhaltensregeln beachten.
Das hört sich ungewöhnlich an, wurde aber letztlich durch die Darstellung eines Kriminalpolizisten bestätigt, der bei der Familie eine sog. Gefährderansprache hielt, nachdem Arzu geflohen war. Dort
traf er die Eltern sowie Sirin an. Während der Vater nach außen einsichtig wirkte, gab Sirin, die als Dolmetscherin fungierte, dem Mann immer wieder zu verstehen, dass es sich um eine reine
Familienangelegenheit handele und die Polizei damit nichts zu tun hätte.
Ausgehend von Sirins Gebaren und ihrer Aussagen, erscheint Sirin als der Spiritus Rector in der Angelegenheit. Inwieweit der Vater in die Ermordung verwickelt ist oder nicht, ist gegenwärtig schwer
zu beurteilen, da die Staatsanwaltschaft noch ermittelt. Sirin stellte sich in der Verhandlung auch so dar, dass sie beispielsweise für die Finanzen der Familie verantwortlich sei.
Der eigentliche Tathergang wurde von ihr dann wie folgt beschrieben: Man (!) habe zu einem Onkel nach Hamburg fahren wollen, der sehr "liberal" sei. Wenn sich dann alles beruhigt hätte, wollte man
Arzu zurück zur Familie holen. Der Onkel machte aber die Tür nicht auf (es war etwa 4 Uhr morgens). Dann habe man (!) weiter nach Lübeck fahren wollen, wo ein anderer Onkel wohnte. Kirer habe mal
austreten müssen; Arzu und Osman seien dann auch ausgestiegen. Kurze Zeit später habe Sirin zwei Schüsse gehört. Sie hätten dann Arzu am Boden liegen sehen und Osman daneben mit etwas in der Hand.
Dann sei etwas (!) in den Kofferraum gelegt worden (man beachte auch diese sprachliche Konstruktion). Auf die wiederholte Frage des Richters, ob denn niemand die Eltern angerufen habe, behauptete
Sirin, sie habe so unter Schock gestanden, dass sie gedacht habe, das könne nicht sein, Arzu lebe noch.
Osman bestätigt die Angaben von Sirin
Auf die Frage des Richters, warum er denn geschossen habe, meinte er, er habe die Kontrolle verloren. Richter: „Warum?“ - Osman: „ja, sie hat mich bespuckt und beschimpft“ - Richter: „Was hat sie
denn gesagt?“ Osman: „Ja eben so Sachen, warum wir das mit ihr machen“ - Richter: „Das erscheint mir angesichts der Situation eine sehr vernünftige Frage.“
Osman war nicht in der Lage zu berichten, welche angeblichen Beschimpfungen Arzu ausgestoßen haben soll. Das Angebot, einen Dolmetscher zu holen, nahm er nicht an. Seine Aussagen wirkten im
Gesamtkontext sehr zweifelhaft. Bei der Erklärung, er habe die „Kontrolle verloren“, wunderte sich der Richter, warum Osman denn geschossen habe: „Sie sind doch ein kräftiger Kerl und das war ein
zierliches Persönchen“ - Osman: keine Antwort.
Die Provokation als Mordbegründung ist eine klassische Aussage für Straftaten im Namen der Ehren, die auch in anderen, bekannten Fällen als Erklärung dienen sollte:
"Ich ficke mit wem ich will", soll Hatun Sürücü (23) gesagt haben, daraufhin hat Ayhan Sürücü (18) seine Schwester mit drei Kopfschüssen getötet.
"Gehst du anschaffen?", fragte Ahmad Obeidi. "Das geht dich einen Scheißdreck an", antwortete Morsal. Daraufhin tötete Ahmad seine 16 Jahre alte Schwester Morsal im Mai 2008 mit 23
Messerstichen.
Ayhan Sürücü und Ahmad Obeidi gaben unter Tränen an provoziert worden zu sein, sowie der 22-jährige Osman Özmen.
Die Datenlage widerspricht den Aussagen
Interessant wird es werden, wenn die Funkdaten ins Spiel kommen. Hier wies der Richter nämlich schon andeutungsweise darauf hin, dass die vorhandenen Funkdaten der Handys die von Sirin genannte Route
Richtung Hamburg eher nicht bestätigen.
Osman behauptete im Übrigen auch, man sei ohne Tanken von Detmold nach Hamburg, weiter nach Norden und wieder zurückgefahren. Das führte zu Unruhe bei den übrigen Angeklagten und zu der Bemerkung des
Richters: „Sie merken schon, die Mannschaft ist anderer Auffassung“.
Affekthandlung oder geplanter Mord?
Die weiteren Zeugen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis von Arzu bestätigten übereinstimmend, dass Arzu Todesangst vor der Familie gehabt habe. Alex beschrieb, dass Arzu ihm von einem Gespräch
zwischen Osman und dem Vater erzählt hatte, dass sie zufällig hörte. So will Arzu gehört haben, dass es das Einfachste wäre, sie umzubringen, im Wald zu verscharren und dann vermisst zu melden.
Die Geschwister zeigten während der Verhandlung keine Regung in irgendeiner Form. Nur Sirin hatte während der Verlesung ihrer Erklärung immer wieder geschluchzt, dies aber offenbar tränenlos. Sie
fand auch die Zeit, einem älteren Mann im Zuschauerraum einen Fingerkuss zu übermitteln, während die Verteidiger und der Staatsanwalt eine Tatortskizze aus der Gerichtsakte in Augenschein nahmen. Der
jüngste Bruder, Elvis, der bislang keine Einlassung abgegeben hat und überhaupt nichts sagte, kam aus den Verhandlungspausen immer wieder leicht grinsend zurück. Es machte den Eindruck, als ob
niemand aus der Familie sauer auf Osman war. Vielmehr wirkte es so, als ob die Familie die Sache einfach hinnehme; "es ist halt passiert".
Darauf läuft auch die Verteidigungslinie hinaus: man (!) habe sich Sorgen um Arzu gemacht, habe sie doch nur zu Vernunft bringen wollen und dann ist Osman "übers Ziel hinausgeschossen".
Am 7. Mai 2012 findet die zweite Sitzung statt. Dann sollen die Gerichtsmediziner gehört werden.
Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.
Detmold, 30. April 2012
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