Menschen zweiter Klasse?

Sehr geehrte Frau Topcu,

als ich Ihren Artikel „Sehnsucht und Wut“ in der ZEIT vom 8. Mai 2013 gelesen habe, konnte ich nicht umhin, Vergleiche zu ziehen zu einem von den überregionalen Medien weitgehend unbeachteten Gerichtsverfahren in Hagen, das ich seit Anfang März als Vertreterin des Menschenrechtsvereins peri e.V. beobachte.

Dort stehen 4 Angeklagte vor Gericht, denen vorgeworfen wird, eine junge Frau ermordet zu haben, weil die Familie ihren „westlichen Lebenswandel“ nicht akzeptierte. Bei den Angeklagten handelt es sich um die Mutter, den Bruder und 2 Onkel der Getöteten. Ein Cousin ist bereits rechtskräftig verurteilt.

In diesem Verfahren gibt es keine Nebenkläger, weil kein Nebenklageberechtiger daran interessiert ist, dass der Tod der Frau gesühnt wird oder dass auch nur die Umstände des Todes geklärt werden.

Sie beschreiben in Ihrem Artikel, wie die Nebenkläger darunter leiden, dass zum einen langatmige Verfahrensanträge gestellt werden und zum anderen die Angeklagte Zschäpe recht entspannt wirkt.

Zum einen ist zu sagen (und das haben Sie auch geschrieben), dass derartige Verfahrensanträge zum Alltag eines rechtsstaatlichen Strafprozesses gehören. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Nebenklagevertreter ihre Mandanten darauf vorbereitet haben. Zum anderen kam mir gleich das Verhalten der Angeklagten in Hagen in den Sinn: diese unterhalten sich ebenfalls sehr entspannt mit ihren Anwälten oder Dolmetschern, sie suchen den Blickkontakt zur im Zuschauerraum sitzenden Verwandtschaft, zwinkern dieser zu, mancher lacht sogar mit den Verwandten. Für mich als Zuschauerin ist es kaum auszuhalten, dass nicht nur die an der Ermordung mutmaßlich in irgendeiner Form beteiligten Angehörigen keinerlei Unrechtsbewusstsein erkennen lassen, sondern auch von der Verwandtschaft offensichtlich mentale Unterstützung erhalten (immerhin auch die Verwandtschaft der Ermordeten).

So entsetzlich die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) sind und so sehr wir als Menschenrechtsverein ein brennendes Interesse an der vollständigen Aufklärung aller Vorgänge rund um diese entsetzlichen Taten haben, so sehr sehen wir aber ein Ungleichgewicht, das uns Sorgen macht: auf der einen Seite 10 Morde innerhalb von 7 Jahren, auf der anderen Seite hingegen die sogenannten „Ehrenmorde“, deren Zahl das Bundeskriminalamt mit 10-12 pro Jahr angibt. Dunkelziffer ist unbekannt.

Wir betreuen Menschen, die vor ihren Familien fliehen, weil diese Familien ihren Lebenswandel (der dem „normalen“ deutschen entspricht) nicht dulden. Wir sehen, dass die Zahl der Hilfesuchenden zunimmt. Der sogenannte „Ehrenmorde“ kann das Ende eines langen Leidensweges sein, den wir zu verhindern suchen. Außerhalb der regionalen Presse werden diese Fälle medial kaum beachtet, vielmehr werden sie als „Einzelfälle“ abgetan. Dabei ist die Zahl der „Ehrenmorde“ immerhin so relevant, dass es einen Psychologen gibt, der in diesem Bereich forscht und von den Gerichten als Sachverständiger beigezogen wird.

Wir hoffen, dass über den NSU-Prozess hinaus im Untersuchungsausschuss das Versagen der Behörden vollständig aufgeklärt werden kann. Wir erwarten aber auch, dass Politik und gesellschaftliche Kräfte sich mit den familiären Strukturen befassen, die die Tötung eines Familienmitglieds zur Wiederherstellung einer diffusen Familienehre als ernsthafte Handlungsoption betrachten.

Mit freundlichen Grüßen
Brigitta Biehl
2. Vorsitzende peri e.V.